„I glaub bloß, was I sieh!”

Liebe Gemeinde,
ist das so? Glauben wir nur das, was wir sehen?

Viele Menschen argumentieren so, um ihre Zweifel vor sich selbst und anderen zu rechtfertigen.
Aber – glauben wir wirklich nur, was wir sehen? Mit diesen beiden Augen?
Glauben wir nicht auch an Dinge, die wir in einem übertragenen Sinne „sehen“? Zum Beispiel die Liebe des Partners, der Partnerin, oder die Wertschätzung von Freunden?

„Glauben heißt nicht wissen“ lautet ein anderer sehr gebräuchlicher Satz.

Doch es gibt auch ein „Wissen“ im übertragenen Sinne.
Hebräer 11 definiert: Glauben ist eine feste Zuversicht dessen, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man – ich ergänze: mit diesen beiden Augen – nicht sieht.
Wer „nicht zweifelt“, „weiß“ doch, oder?

Drei Mal versichert der Schreiber des Johannesbriefs, dass er etwas vom „Wort des Lebens“ gesehen und „betastet“, im wahrsten Sinn des Wortes „begriffen“ hat. –
Wer das erlebt, wem „das Leben erscheint“, der kann nicht anders, er muss davon erzählen! Das ist das Erste, wovon unser Predigttext spricht.

Aber … Was ist „das Leben“?

Ich möchte „etwas vom Leben haben“, „etwas daraus machen“, sagen viele Menschen. Sie sind auf der Suche: nach prickelnden Erlebnissen, nach Spaß, einer erfolgreichen Karriere oder einer sorgenfreien Existenz.
„Ich will alles, und zwar sofort!“ ist der Titel eines alten Schlagers, „Hauptsache, Ihr habt Spaß“ wirbt seit Jahren ein Elektronik-Konzern.
Aber … ist das „Leben“, „wirkliches“, „erfülltes“ Leben?

Die neue Jahreslosung lautet: Jesus Christus spricht: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.“ Auch sie lässt erahnen: In uns steckt eine tiefe Sehnsucht, irgendwo anzukommen: die Unruhe in uns zu verlieren, gefühlte Leere zu füllen, dauerhaft aufzutanken. Wir sehnen uns nach Liebe und Geborgenheit – letztendlich nach dem inneren Frieden, in dem sich Leib und Seele wohlfühlen.

Johannes und die anderen Jünger haben dieses wirkliche Leben bei Jesus gefunden. Und auch nach ihnen wissen wir von vielen Menschen, dass ihnen das Leben erschienen ist. Sie haben es gespürt, eindeutig wahrgenommen!

Wenn wir in unser Leben zurückblicken, werden auch uns viele Erfahrungen bewusst, durch die wir erkannt haben: Hier wirkte Gott, ganz konkret in meinem Leben. Das kann, muss aber nichts Großartiges sein. Je mehr wir gelernt haben, Gott hinter allem zu sehen, was wir erleben, umso mehr entdecken wir, auf wie vielen kleinen und großen Wegen er uns begleitet hat. Meist erst rückblickend erkennen wir, wie oft wir etwas von seiner Liebe gespürt und uns getragen, ja, sogar geborgen gefühlt haben.

Und das gilt auch für die schwierigen Zeiten unseres Lebens.
Zurzeit erleben wir das zweite Weihnachten, den zweiten Jahreswechsel mit Corona-Pandemie. Auch wenn wir weniger Einschränkungen haben als vor einem Jahr – sie belasten uns. Wir haben zwar gelernt, mehr auf uns selbst und aufeinander zu achten, auch was das Alleinsein angeht. Das Mühsamste ist wohl, dass wir nicht wissen, wann die Pandemie besiegt ist.

Aus der Weltgeschichte wissen wir, dass es schon immer sehr schwierige Zeiten gab:

  • Pest und Spanische Grippe,
  • Kriege,
  • Naturkatastrophen,
  • Hungersnöte.

Flüchtlingsströme verursachten ganze Völkerwanderungen.

Und wenn wir über die deutschen Grenzen hinaussehen, merken wir, dass es uns hier vergleichsweise gut geht.

Gerade in schweren Zeiten entstanden oft sehr bewegende Texte und Lieder, die wir bis heute kennen. Denn durch alle Zeiten hindurch gab es Menschen, denen „das Leben erschienen“ ist, deren Herz damit voll wurde und der Mund überging.
Auch diese Menschen sind nicht alle Jesus „leibhaftig“ begegnet,
doch sie haben seine Nähe, seine Liebe, sogar Geborgenheit bei ihm gespürt. Seine Tür stand immer und steht weit offen; er weist niemanden ab. Und er hält Leben, wirkliches, erfülltes Leben für uns bereit – in seinen Worten, seinem Zuspruch, durch seine Liebe und seine Vergebung.

Wenn wir uns auf die Begegnung mit IHM einlassen, können wir ganz persönlich erfahren, wie er unser Leben neu macht und uns Hoffnung und Zukunft schenkt. Denn wer durch diese Türe eintritt, erlebt eine ganz besondere Art der Gemeinschaft.

Der Johannesbrief formuliert: Gemeinschaft mit Gott dem Vater und seinem Sohn Jesus Christus. Wer diese Gemeinschaft einmal erlebt hat, kann nicht mehr schweigen. Alle, und besonders die Menschen, die man liebt, sollen Anteil haben an dieser Gemeinschaft, die durch das ganze Leben hindurchträgt, auch durch Ängste und Sorgen.

Mir selbst geht es genauso. Seit ich diese Gemeinschaft erlebt und immer mehr begriffen habe, trage auch ich diesen großen Wunsch in mir.
Und das auch, ohne dieses Leben und Licht mit diesen beiden Augen gesehen und mit diesen Fingern betastet zu haben.

Das ist das Zweite in unserem Text:
Wir verkündigen euch das Leben, damit auch ihr Gemeinschaft habt mit uns und vor allem mit dem Vater im Himmel und seinem Sohn Jesus Christus.

Gemeinschaft – eine, vielleicht die größte Sehnsucht des Menschen.
Der Mensch ist ein Gemeinschaftswesen. Keiner will allein sein, bestätigt auch die Corona-Pandemie. Selbst viele Menschen um uns herum, denen es von außen betrachtet an nichts fehlt, fühlen sich innerlich sehr einsam und allein. Wir selbst schaffen es nicht, Gemeinschaft zu „produzieren“.

Das ist keine neue Erkenntnis. Schon in den 1970er Jahren empfanden wir Jüngere und hörte ich von Menschen aller Altersklassen: „Wir brauchen mehr, bessere Gemeinschaft untereinander!“ Wir holten uns Tipps von klugen Leuten und begabten Predigern; doch kein Vortrag, kein Tipp führte zum Erfolg.
Ein Jugendreferent schloss daraus, dass man Gemeinschaft nicht predigen kann, man muss sie praktizieren und erleben. Ihm gelang, ein Lebenszentrum aufzubauen, in dem junge Leute das ein Jahr lang ausprobieren können. Auch ich konnte das einige Jahre später tun.
Doch auch diese Chance wäre vertan, wenn wir jungen Leute uns nicht auf eines eingelassen hätten: Die persönliche Bankrotterklärung, es nicht selbst zu schaffen! Denn: echte Gemeinschaft beginnt mit der Weihnachtsbotschaft:

In Jesus, dem Kind in der Krippe, kommt Gott, um von sich her die verlorene Gemeinschaft mit uns wieder aufzubauen und uns auch untereinander tragfähige Gemeinschaft zu ermöglichen.
Das war die Wende in der Geschichte der Menschheit –
und kann die Wende in unserem persönlichen Leben sein!
Denn es besteht der Verdacht, dass die größte Sehnsucht des Menschen die nach der verlorenen Gemeinschaft mit Gott ist.

In dem Kind in der Krippe, in Jesus, ist das wirkliche Leben erschienen. Wer mit IHM in Kontakt tritt, der bleibt nicht allein.

Friedrich von Bodelschwingh formulierte:
»Das ist das Wunder der Heiligen Nacht: Das Kind nimmt unser Leben in seine Hände, um es niemals wieder loszulassen.«
Wir sind gehalten in Jesu Händen. Er sagt es uns zu.

Und er stellt uns Brüder und Schwestern an die Seite.
Dietrich Bonhoeffer sagte: »Das Wort Gottes will, dass keiner allein gelassen wird, in ihm bleibt keiner allein, das Wort macht die einzelnen zu einem Leibe.«

Jesus ist dieses gute Wort Gottes in unserem Leben,
er macht uns zu Gliedern an seinem Leib,
er stellt uns in seine Gemeinde.

In der Gemeinde werden wir zu Brüdern und Schwestern, die miteinander den Weg des Glaubens gehen. Das wirkt sich aus, bis in unseren Alltag hinein! Das gilt, in guten und in schweren Tagen!

Wenn wir in unserer Gemeinde uns als Geschwister sehen und begreifen, sind wir nicht einsam: Wir werden

  • zu Menschen, die einander die eine oder andere Not anvertrauen und füreinander beten können;
  • zu Menschen, die gegenseitig erfahren, wie das Gebet zur Hilfe wird und trägt.
  • Nicht selten kommt zum Gebet auch die Tat:

Menschen kommen in Bewegung und helfen einander, die eine dem anderen und umgekehrt.

So getragen sein und andere mitzutragen – das ist der Grund der Freude, die uns aus der Heiligen Nacht entgegenklingt. Zu wissen, da gibt es Menschen, zu denen ich gehöre. Nicht unbedingt so eng, wie das in einer Familie gelebt werden kann, aber doch so spürbar, dass ich in Zeiten des Alleinseins nicht einsam sein muss.

Damit sind wir beim Dritten in unserem Text: Und das schreiben wir, damit unsere Freude vollkommen sei.

Das Wissen, nicht allein zu sein, löst tiefe Freude in uns aus. Das Wissen, zu dieser besonderen Gemeinschaft mit Gott zu gehören, noch mehr. Sie verbindet uns Menschen ganz neu miteinander. Gott erfüllt uns mit seinem Frieden und die Freude füllt uns vollkommen aus.

Wie stark diese Freude trägt, ist auch und vielleicht am stärksten zu spüren, wenn man sich von einem geliebten Menschen trennen muss. Ob das auf Zeit ist, weil die Kinder ihr eigenes Leben an einem anderen, vielleicht weit entfernten Ort gestalten, oder auf Lebenszeit, weil einem ein Mensch durch den Tod entrissen wird. Denn man weiß: Die Gemeinschaft, die Gott gegeben hat, hält die Verbindung weiter aufrecht, bis hinein in die Ewigkeit.

Aus dem Ostergeschehen wissen wir: Der, der diese Gemeinschaft trägt, lebt – er ist bei uns alle Tage, bis an der Welt Ende.
Das Pfingstgeschehen sagt uns: Wir haben Anteil an dieser Gemeinschaft der Freude, durch seinen Geist, der uns gegeben ist und uns dies Stück für Stück begreifen hilft.

Ich weiß nicht, wie es ihnen damit geht, aber mir wird immer wichtiger und ich lade herzlich ein, mit mir zu sagen:
„Ich glaube mehr als das, was ich sehe, und freue mich an dem, was ich im Glauben weiß!“

Amen.

 

Ulrike Seibold